Liam Gillick in Sankt Peter


25.05.2021 | Kunst 
Emma Bieck über Replace Rubens – Liam Gillick: Kinetic Energy of Rigid Bodies. Jesuitenkirche Sankt Peter, Leonhard-Tietz-Str. 6
22. April – 6. Juni 2021

Besonders weil Museen zur Zeit geschlossen haben, bieten sich Kirchen zum Kunst anschauen an. In St. Peter in der Nähe vom Neumarkt ist Liam Gillicks Arbeit Kinetic Energy of Rigid Bodies zu sehen.

Sie ist Teil der Ausstellungsreihe Replace Rubens. Normalerweise hängt an der Ostwand der Kirche das Gemälde die Kreuzigung Petri von Peter Paul Rubens. Zur Zeit wird das Werk technischen Untersuchungen unterzogen und deshalb ist die Wand leer. Diese Lücke wird... also gefüllt. Von Mai 2020 bis April 2021 waren dort Arbeiten von Gerhard Richter und Walid Raad zu sehen, nun eine von Liam Gillick.

Der Innenraum von St. Peter mit seinem glatten Betonboden ist komplett leer. An der Ostwand, direkt neben dem Altar wurde eine Vinylgrafik auf die Wand aufgebracht,  die in Größe und Platzierung der Kreuzigung Petri entspricht. Es ist eine riesige, entblößte männliche Figur zu sehen, die auf einem Stück Gras steht und die am ganzen Körper von verschiedenen spitzen Werkzeugen durchstoßen wird: Speere, Schwerter, Messer, eine Axt und zahlreiche gebrochen Pfeile. Die linke Hand ist beinahe abgetrennt, der Blick auf den Knochen ist frei, lediglich mit einem Stück Haut ist sie noch mit dem restlichen Körper verbunden. Man fühlt und assoziiert unvergleichliche Schmerzen, aber man sieht sie nicht, denn der Mann steht aufrecht, den Kopf leicht nach rechts geneigt und den Blick nach unten gesenkt. Als ob er Modell steht, ist sein linkes Bein leicht angewinkelt. Über ihm ist eine Denkblase mit der Formel für kinetische Energie, E (klein k) = 1/2 mv^2 zu sehen. Kinetische Energie bedeutet Bewegungsenergie,  zum Beispiel die Wucht der Bewegung, mit der bestimmte Objekte einen Körper treffen.

Die abgebildete Figur ist ein Holzschnitt, der das spätmittelalterliche Motiv des Wundenmanns darstellt. Gefunden hat Gillick dieses Motiv in einer medizinischen Handschrift der Kriegschirurgie. Der Wundenmann ist die säkularisierte Form des christlichen Schmerzensmanns, wie etwa Jesusoder auch Petrus. In medizinischen Büchern wurde diese Figur benutzt, um dem Betrachter einen Überblick über die verschiedenen Formen von Wunden zu geben. Liam Gillick sammelt schon seit den 1990er Jahren mittelalterliche Holzschnitte. Sie sind immer wieder in seinen Ausstellungen zu sehen, oft setzt er sie seinen abstrakten Objekten und Installationen aus Aluminium gegenüber. Auch den Wundenmann hat Gillick bereits in anderen Zusammenhängen gezeigt. In seiner Ausstellung A Depicted Horse is not a Critique of a Horse von 2019, die in der Kerlin Galerie in Dublin stattfand, zeigte Gillick große Wandgrafiken von spezifischen Charakteren. Er stellte jeweils einer Druckgrafik eines mittelalterlichen Holzschnitts einen Kommentar über kontemporäre Produktionsbedingungen zur Seite. Der Wundenmann denkt an den Satz „Return of Capital Employed“. Ein auf einem Pferd reitender Ritter träumt von abstrakten geometrischen Formen und ein Mönch trinkt auf die ersten von Robotern produzierten Autos1. Indem Gillick spätmittelalterliche Produktionsprozesse mit denen des 20. und 21. Jahrhunderts parallelisiert, wird eine Verbindung und eine Gleichzeitigkeit konstruiert, welche auf die Ursprünge unserer kontemporären Produktionsbedingungen im 16. Jahrhundert verweisen, den Beginn kapitalistischer Produktion. Dabei kann man das Wort Ursprung nicht nur als Anfang unserer heutigen Situation verstehen, sondern auch als Fülle ungeahnter Möglichkeiten unterschiedlicher historischer Abschnitte, welche uns als physische oder eingebildete Schmerzen heimsuchen. Die selbstreflexive Verortung der eigenen künstlerischen Arbeit in der kunsthistorischen Tradition und unter den gegebenen ökonomischen Produktionsverhältnissen ist ein zentraler Bestandteil der Arbeit Gillicks. Seine Arbeiten sind eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von kontemporärer Kunst zum kapitalistischen Wirtschaftssystem und der Frage nach der Möglichkeit von Kunst als Kritik. Das kontemporäre Verhältnis von Kunst zum Kapitalismus zeigt einige Ähnlichkeiten und Überschneidungen auf, die auch in Gillicks Praxis zu finden sind. Eine Überschneidung ist der Wandel innerhalb der Kunst von eher autonomen, objektbasierten Aktivitäten hin zu direkten Auseinandersetzungen mit den sozialen und institutionellen Bestimmungen künstlerischer Tätigkeiten. Mit diesem Wandel innerhalb der Kunst geht ein Wandel innerhalb der Produktionssphäre einher von einer industriellen Wirtschaftsorganisation hin zu einer informationsbasierten Ökonomie, in welcher intellektuelle Lohnarbeit an Bedeutung gewinnt und die Kommodifizierung immer weitere Teile des gesellschaftlichen Lebens einholt. In diese Entwicklung fällt dann auch die Transformation von traditionellen Fähigkeiten und Kompetenzen von Künstler*innen und die steigende Bedeutung konzeptueller Tätigkeiten seit den 1960er Jahren2. Informationsaustausch wird zentraler Aspekt der Wertgenerierung in der Warenproduktion und in der Kunst.

Gillicks Druckgrafiken mittelalterlicher Holzschnitte sind Darstellungen bestimmter mittelalterlicher Figuren wie der Wundenmann oder der Ritter, versehen mit einem selbstreflexiven Kommentar über ihre eigene Position. Der Wundenmann des Spätmittelalters, der, getroffen von unzähligen Waffen, über die mathematische Formel kinetischer Energie des 19. Jahrhunderts nachdenkt, welche seinen eigenen Schmerz rationalisiert und quantifizierbar macht, ist also einerseits die Herstellung einer Gleichzeitigkeit und historischen Bedingtheit wissenschaftlicher Erkenntnis mit ekstatischen Leiden und andererseits eine Verbildlichung des selbstreflexiven Denkprozesses von Gillick. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Arbeit bei der Betrachtung seltsam überdeterminiert erscheint. Die Denkblase über dem Kopf des Wundenmannes und seine eigene rationale Einordnung des Schmerzes, lassen der Betrachter*in kaum Platz für eine eigene sinnliche Erfahrung, für eine eigene Zuschreibung von Bedeutung. Man fühlt nicht den Schmerz, wie man es vielleicht bei der Betrachtung des Gemäldes von Petrus von Rubens tun würde. Diese Überdeterminierung der Arbeit betont ihren eigenen Nutzen im Angesicht der Betrachter*, Information wird wichtiger als die eigene ästhetische Erfahrung. Und es liegt der Schluss nahe, dass für Gillick eine ästhetische Erfahrung heute vor allem eine Verarbeitung von Information ist, analog zum immer weiter fortschreitenden Prozess der Kommodifizierung aller menschlichen Beziehungen in verwertbare Informationen.



1 https://thequietus.com/articles/25740
2 Stewart Martin, Being Liam Gillick. https://www.metamute.org/editorial/articles/being-liam-gillick


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